Der Elchengel - 12. Türchen
Und so kam es, dass Linny den ersten Umschlag auswählen sollte.
Sie blickte auf den Haufen schillernd bunter Briefe und wählte den, in den sie den Bogen mit der "Gesundheit" gesteckt hatte.
Als sie auf dem Rücken des Elches saß, sagte dieser: "Nun halte dich gut fest". Und ehe sie noch antworten konnte, setzte er sich in Bewegung, wurde schneller und schneller und hob vom Boden ab.
Tatsächlich flogen sie. Wie in ihrem Traum in der vergangenen Nacht.
"Sag mal", rief Linny gegen den Wind an, während sie mit einer Hand ihre Mütze festhielt, "Sehen uns die Menschen denn nicht"?
"Nein - was die Menschen nicht glauben, können sie auch nicht sehen. Mach dir keine Sorgen - vorerst sind wir unsichtbar", erwiderte der Elch.
So flogen sie eine Weile dahin und Linny genoss es sehr, die Landschaft von oben zu betrachten.
Irgendwann kamen sie an ein kleines Häuschen. Rauch stieg aus dem Schornstein auf, der Elch verlangsamte seine Fluggeschwindigkeit und ließ sich tiefer sinken.
Linny erkannte, dass ein Fenster offenstand, und sah eine ältere Frau an einem Tisch mit Medikamenten sitzen. Sie wirkte ernst und betrübt.
"Jetzt", rief der Elch. "Linny, wirf den Brief jetzt ab".
Und Linny tat, wie ihr geheißen.
Der Umschlag flatterte ein bisschen durch die Luft und blieb schließlich auf dem Fensterbrett liegen.
Die Frau blickte auf, erhob sich mühsam, ging zum Fenster und nahm erstaunt den Brief in die Hand.
Als sie ihn öffnete, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Kaum merklich bekamen die Wangen ein wenig mehr Farbe, und sie fühlte sich auf einmal besser. So gut, wie seit langem nicht mehr. Und so dachte sie, sie könnte sich den Mantel anziehen und hinausgehen, um einen Spaziergang zu machen. Das hatte sie schon ewig nicht mehr getan.
Als sie vor die Tür trat, hatte sie das Gefühl, dass sich über ihrem Kopf die Luft bewegte, doch entdecken konnte sie da oben nichts. Nur blauen Himmel mit ein paar Wölkchen. Die Luft war herrlich, sie schloss die Haustür ab und tat ihre ersten Schritte.
